Rainer Beßling
Jette Slangerod Formende Urkräfte und ursprüngliche Formen
Farben verwirbeln sich zu einem wolligen Fell. Mal fester und dichter, mal lockerer und grobporiger wuchern die Gebilde unregelmäßig in der Fläche. Keine feste Kontur umschließt die Ausbuchtungen. Licht und zart oder wuchtig und dunkel fasern und blühen die Formen aus. Das Farbspektrum ist weit: erdige und sandige Töne, grelle Signale, artifizielles Kolorit. Die formal ausgelösten Assoziationen sind vielfältig: ein unvollständiges, angeschnittenes Oval, ein Halbmond, ein zotteliges Tier, angedeutete Kopf-Formen, einem Rumpf Ähnliches. Doch alles bleibt Fragment, in Entwicklung Begriffenes. Phänomene zwischen Vorschein und Nachklang vertrauter Gestalt und sprachlicher Fassbarkeit.
Jette Slangerod siedelt ihre „Porträts“ abseits jeder Bildnis-Konvention an. Die amorphen Formen decken sich nicht mit Physiognomie. Hier rücken Physis und Psyche ins Zentrum. Frei von der Konvention des rechteckigen Bildformats gewinnen Farbformen eine eigene Körperlichkeit. Diese greift stofflich in den Raum aus und tritt dem Betrachter als pulsierender Organismus gegenüber.
In der Serie „Kopenhagener“ fertigt Slangerod Porträts ihr bekannter Frauen, die sie nach längerer Zeit wiedergetroffen hat. In Farbe und Form ist die Ausstrahlung übersetzt, die die Künstlerin von den Personen empfangen hat. Signale, die die sichtbare Gestalt aussendet, aber auch Wesensmerkmale und das Klima des Blicks, die Atmosphäre der Begegnung selbst. Wahrnehmung ist vonder Disposition des Betrachters gelenkt. Mit diesem Kosmos leiblicher Zustände, die jeder reflektierten Aneignung vorausgehen und diese immer wieder durchkreuzen, setzt sich die Künstlerin in dem Werkabschnitt „Bodys“ auseinander. Die Disposition der Betrachtung wird wiederum beeinflusst vom Gegenüber.
Die Übertragung der empfundenen Persönlichkeit und der erspürten Charakterzüge vollzieht sich im malerischen Prozess, der seine eigene Dynamik besitzt. Die Wiedergabe des Gegenüber vollzieht sich in Korrespondenz mit der Ergründung der Wechselbeziehungen von Form und Farbe. Die Künstlerin benutzt in ihren Porträtierungen vielfach transparente Bildträger, die sie von beiden Seiten bemalt. Zur Anlage einer organischen Entwicklung der Farb-Formen tritt somit ein Dialog der Flächen. In einigen Werkreihen liegen sechs Folien übereinander, wodurch der Eindruck einer schwimmenden, schwebenden Körperlichkeit mit Schatten und Unschärfen entsteht.
Unter den Wechselbeziehungen, die in den Bildnissen thematisiert und gestaltet werden, fokussiert Slangerod in einer Serie den Effekt der „Rückkopplung“. Dieser lässt sich sowohl in natürlichen und technischen wie auch in sozialen Systemen beobachten. Der Mensch bringt Signale zum Ausdruck, die vom Gegenüber nicht nur aufgegriffen und ausgewertet werden, sondern den Empfänger auch an den Sender rückkoppeln. Er empfindet Gefühle seines Gegenüber nach. Die Einfühlung fördert Verständnis und Antizipation von Aktionen und Reaktionen. Im Kreislauf von Rückkopplungen vollziehen sich Verstärkung und Balance. Die Künstlerin schafft mit Acrylplatten im Raum zwei Außen-Seiten und zwei Innen-Seiten, zwischen die der Betrachter treten und wo er den Rückkopplungsbezirk, ein besonderes Energiefeld, erspüren kann.
Mit ihren komplexen, durch unmittelbare Farb-und Formwirkung körperhaften Arbeiten greift die Künstlerin auf eigene Weise Grundfragen des Bildnisses und des Menschenbildes auf: Was kennzeichnet einen Menschen? Was sagt die menschliche Gestalt über das menschliche Wesen?Was macht unser Verständnis eines Menschen aus? Zugleich thematisiert Slangerod auf fundamentale Weise Formsuche und -findung.Wie bilden sich Formen, Körper, Gestalten und wie wirken sie? Wie entstehen Organismen und übergeordnete Zusammenhänge? Was passiert, wenn Farbe zu Form wird oder Form als Farbe auftritt? Welche Form ist für welche Farbe geeignet? Auf welchen Fundamenten wirken Farben?
„Intramorphose“ heißt eine Serie von Darstellungen amorpher Gebilde. Die Formen gehen auf Wachsflecken auf dem Boden eines Schlosses zurück. Nicht um das Relikt eines Ereignisses, das eine Spurensuche anstoßen könnte, geht es. Der beiläufige Alltagsfund ist in anderer Hinsicht bemerkenswert. Er ist eine Form aus Übergängen. Verschiedene Aggregatzustände lassen sichnachvollziehen. Keine benennbare Gestalt ist entstanden, vielmehr schlagen sich Prozesse nieder und wirken als Binnenbewegung nach. Sechs übereinander liegende Folien formulieren mit kleinen Verschiebungen, Verzerrungen und Unschärfen anhaltende Veränderungsschübe.
Solch offene und freie Formen, prozesshaft gewonnene, in Veränderung begriffene Gebilde kennzeichnen die Arbeiten von Jette Slangerod. In der Reihe „Seltsame Dinge“, der Begriff ist aus der Chaostheorie abgeleitet, tauchen Organismen in Schwellenzuständen, zwischen Chaos und Ordnung auf. In „Nucleus“ erinnert sie an die Entstehung von Leben: die Zellteilung als Basis natürlicher Prozesse. Dem nachbildenden Verweis, dieser Offenlegung einer Offenbarung, wohnen kritischer Kommentar und Mahnung inne: Die von der Wissenschaft freigelegten Lebensprozesse werden in ihrer Schutzlosigkeit offenkundig. Das Wunder der Natur, lange bestauntes Sperrgebiet, wird zur Manövriermasse. Der Mensch tritt ans Schaltpult der Schöpfung.
Nicht zuletzt diesem Konstruktionswahn, im Grunde aber jeder fatalen Designermentalität mit der Fixierung von Formen und der Konventionalisierung des Blicks tritt Slangerod entgegen. Zu ihren Strategien zählt die Ansprache des Körperempfindens mit organischen Gebilden und offenen Formen, die Freisetzung differenzierter und subtiler Farbklänge. Sie lässt ihre freien Figurationen subversiv an gezirkelte Wandstrukturen andocken und mit dem Raum reibungsvoll korrespondieren. Sie inszeniert vor allem jene atmosphärischen Räume, die mehr als den Gesichtssinn wecken.
So wie sie dem Betrachter klare Konturen von Körpern verweigert, bringt die Künstlerin auch vermeintlich sichere Strukturen des Lebens in Bewegung. „Visitors“ sind Eindringlinge, wuchernde, blasen-oder wellenförmigeGebilde, die sich im Raum breit machen und sich nicht beherrschen und domestizieren lassen. Mit dem Titel „Invasion“ sind Bilder zusammengefasst, die von physischen und psychischen Landnahmen sprechen, von Eingriffen und Übergriffen, die das Leben aufmischen und überlagern. Die Künstlerin macht mit der Platzierung von Farbformen an Grenzstreifen und Fronten solche imperialen Ansprüche und Offensiven sinnfällig.
Offenheit und Prozesscharakter beinhalten sowohl Unsicherheit als auch Potential. Womit Jette Slangerodbildnerisch und bildhaft berührt, ist die Einsicht, dass die einzige Stabilität des Lebens in dessen Veränderbarkeit und steter Veränderung liegt. Je vertrauter dieser Umstand wird, desto versöhnlicher kann er stimmen.