Anette Naumann

Emanations

Mit diesem Titel hat Jette Slangerod tief in die Philosophische Kiste gegriffen. Ich erkläre gleich, was er bedeutet, und sage nur vorweg, dass es bei der dänischen Künstlerin bewusst um drei Aspekte geht: die Welt der Gedanken, die Welt der physischen Realität, und die Welt der Malerei, in der beides zusammenkommt.
Denn Bilder sind ja – zumindestens hier – aus Farbe und Leinwand gemacht und somit Teil der sinnlichen Welt, und gleichzeitig werden in ihnen Eindrücke und Wahrnehmungen der sonstigen physischen Welt verarbeitet, in solcher Weise, dass etwas Neues dabei herauskommt. Etwas Neues, das man weder mit Worten sagen kann noch irgendwo in der Welt schon mal gesehen hat. Wenn die Werke gut sind, haben sie nicht eine Idee illustriert, sondern etwas Einzigartiges erschaffen in der Form einer Idee. Und das tun die Gemälde von Jette Slangerod.

Das Reich der Gedanken ist in dieser Ausstellung am besten beispielhaft sichtbar bei dem titelgebenden Bild hier im Eingangsbereich. Es ist das einzige der Werkreihe „Emanations“, das beim Prozess der Raumgestaltung tatsächlich Eingang in die Ausstellung gefunden hat.
Der Begriff bedeutet in der Philosophie, bei der Frage, wie die Welt entstanden ist, das Hervorgehen aller Dinge aus dem Einen, dem allumfassenden schöpferischen Urgrund. Dadurch sind die Dinge sowohl etwas Einzelnes, als auch gleichzeitig Teile des großen Ganzen. Metaphorisch wird dabei die Vorstellung von Wasser, das aus einer Quelle fließt, verwendet – das Wasser ist von der Quelle nicht zu trennen, beides ist eines.

In den Bildern dieser Reihe ist eine vibrierende, pulsierende Farboberfläche zu sehen, aus der sich bei längerem Betrachten Dinge hervorwölben, die Gestalt gewinnen wollen oder dabei sind, sie gerade zu verlieren, das ist nicht eindeutig festzumachen. Es ist ein Schwebezustand zwischen Unstofflichem und Festem. Und das Dingliche scheint von derselben Substanz zu sein wie das Umgebende. Entweder hat man es mit dem Prozess der Erschaffung von etwas zu tun oder mit der langsamen Auflösung in die Ursubstanz – diese Ambivalenz hat mit dem Leben selbst zu tun, das allüberall aus ständigen Aufbau- und Abbauprozessen besteht.
Sie sollen jetzt nicht denken, die Künstlerin habe sich gefragt, „was soll ich denn mal malen“ und dann zum Wörterbuch gegriffen, um nach einer Idee zu suchen. Der Titel des Bildes wurde erst im Nachhinein gefunden, weil er an diesen Vorgang des Hervorgehens erinnert – wie etwas aus einer dem Gegenstand selbst entsprechenden Substanz sich materialisiert.

Ein Bild aus dem jüngsten Zyklus „Located“, das im hinteren Raum zu sehen ist, arbeitet in ähnlicher Weise mit einem Verschwimmen von Dinglichem und Hintergrund – wo der roséfarbene Untergrund gewissermaßen verflüssigt erscheint, überfließt in das plastische Gebilde und sich in dessen Vertiefungen sammelt. Ob es versinkt oder am auftauchen ist, ist ebenfalls nicht zu entscheiden. Hier scheinen es jedoch zwei verschiedene Stofflichkeiten zu sein, in Farbe und Pinselduktus voneinander unterschieden.

Der zweite Aspekt von dem ich gesprochen habe, ist der Gegenpol zur Metaphysik: das Reich der physischen Realität. Dieses ist in dieser Ausstellung besonders in der Reihe der Daytripper zu finden, den lebensgroßen Gemälden hier, aber auch in den kleinen Folienbildern im Gang. In ihnen setzt sich Jette Slangerod mit Dingen des täglichen Lebens auseinander, die ansonsten weggeworfen werfen oder unbeachtet bleiben. Ich benenne diese Ursprungsobjekte erstmal nicht, um sie für eine kleine Weile Ihrer anschaulichen Phantasie zu überlassen. Die Malerin präsentiert diese Fundstücke nicht als solche, was in der Kunst der letzten 100 Jahre ja vielfach praktiziert wurde. D. h. sie werden nicht als Artefakte in einer Vitrine ausgestellt oder in ihrer ursprünglichen Erscheinungsweise als Ausdrucksmittel verwendet. Sie werden auch nicht einfach realistisch abgebildet, sondern durch die Malerei in eine völlig andere, monumentale und geradezu überwältigende Erscheinung verwandelt. Sie besitzen eine eigene Wahrhaftigkeit und Logik, denn sie sind so und können gar nicht anders sein – ich glaube, das würden Sie auch bestätigen nach einer Weile anschauen. Erst in der Freiheit der künstlerischen Form wird die potenzielle Expressivität der Figur erlebbar. Und so verleiht Jette Slangerod durch den bildnerischen Prozess den sinnlichen Dingen in deren Auftreten etwas Charakteristisches, Individuelles und damit Ideelles.

Ich möchte an dieser Stelle beschreiben, wie dieser dritte Aspekt, die Transformation von Gedanklichem und Gegenständlichem in bildende Kunst, gelungen ist. Jette Slangerod betrachtet Wegwerfprodukte und andere Phänomene als Ausgangspunkt ihrer Malerei mit ihrem geschärften Blick für Formen und aussagekräftige Umrisse. Nicht jede Kontur ist spannend, manche aber doch. Was ihre Inspiration entfacht, bekommt in der Expansion auf Menschengröße und in der malerischen Entwicklung eine solche Ausdruckskraft, als hätte man es mit einer lebendigen, willensbegabten Figur zu tun, die auf einen zukommt. Der Eindruck eines persönlichen Gegenübers wird verstärkt dadurch, dass sie durch den Bodenkontakt quasi von der Wand herab in unseren Raum hineintreten – wie bei „The Purple Rose of Kairo“, dem Film von Woody Allen, wo der männliche Star von der Leinwand herabsteigt und sich neben die Zuschauerin setzt. Hier ist der oder die Betrachtende vielleicht nicht sofort begeistert davon, ein solches Wesen zu treffen, das durchaus auch unbehagliche Gefühle hervorruft. Schließlich kann man sich seiner Präsenz kaum entziehen, es sei denn man macht die Augen zu oder geht weg.

Aber was tun diese Gestalten, wenn man sich ihnen zuwendet? Alle Daytripper ruhen auf einem nur schmalen Standpunkt. Wenn man mit den Augen die äußere Form abtastet und dann das farbige Körpervolumen betrachtet, den Knicken, Faltungen, Ausdehnungen und Windungen folgt, verschieben sich die Gewichte. Ein Überhang lastet, etwas „geht in die Knie“, etwas streckt sich in die Höhe oder Gliedmaßen winkeln sich ab. In der Vorstellung entstehen Geh- und Drehbewegungen. Dieses hier hat geradezu etwas Tänzerisches, während das hier den Eindruck macht, als schleiche jemand mit gebeugten Knien von rechts nach links und schaue sich nach hinten um (das kleine Dreieck oben weist in die entgegengesetzte Richtung wie die Hauptneigung). Die Platzierung zwischen den beiden Öffnungen ist besonders passend, als würde es aus der rechten Tür herausgehuscht sein und im nächsten Augenblick in den Gang einbiegen wollen.
Ein zweites Bild aus der Reihe „Located“, hier im vorderen Bereich, ist reiner Schwung, reine Bewegung. Auf einem kleinen Füßchen, das wie ein Kugelgelenk wirkt, balanciert eine breite, milchig-gläserne Figur, die sich in einem straffen Bogen nach rechts streckt, und gleichzeitig nach links ausschwenkt. Man kann sich gut vorstellen, dass es sich um seine eigene Achse drehen und einmal durch unseren Raum kreiseln könnte.

Stiller und gesammelter wirken die kleinen Arbeiten der sogenannten Intramorphose. Auf Folie gemalte Acrylbilder lassen in mehreren Schichten hintereinander kleine Gestalten entstehen, deren Umrisse unterschiedliche Eigenschaften zeigen. Kompaktere, abgeschlossenere Formen sehen ruhiger aus, während in mehrere Richtungen ausgreifende Ärmchen aktiver scheinen. Das Gehirn wird angeregt, nach parallelen Eindrücken zu suchen und das Formengedächtnis vergleicht automatisch verschiedene Silhouetten, die einen daran erinnern. Es ist erlaubt, nach solchen Assoziationen zu suchen – und ein Erkenntnisgewinn, wenn man versucht sich klarzumachen, welche visuelle Eigenschaft des Bildes diese angeregt hat.

Überhaupt möchte ich Ihnen ein paar Gesichtspunkte an die Hand geben, anhand derer Sie sich mit den Werken unterhalten können bzw. gegebenenfalls auch mit Ihren Nachbarn:

Was für einen Charakter hat die Umrisslinie?
Was für eine Art Stofflichkeit ist gemalt, an welches Material muss ich denken?
Welches Element kommt in dem Bild am meisten zum Ausdruck: Erdiges, Luftiges, Wässriges oder Feuriges?
Was für eine Aktion schreibe ich der Bildform zu? (Dazu habe ich ja schon meine Erlebnisse erzählt, aber wie sehen Sie es?)

Ich wünsche Ihnen eine spannende Unterredung mit Exponaten und Menschen und danke für Ihr Zuhören.